Edina Meizel hat das Thema beschäftigt, sie stürzte sich in die Fachliteratur und lernte auch suchtkranke Menschen kennen. Sie war fasziniert von dem Thema, auch weil sie der Frage nachspüren wollte, „was es eigentlich bedeutet, Mensch zu sein, auch wenn man immer wieder fällt und dann doch wieder aufsteht“. So verfasste sie das Theaterstück „Alkohol“, probte mit dem Kemptener Theater-Ensemble ein Jahr lang, bis sie es in Kempten aufführten.
Nach der jüngsten Aufführung im Kolping-Saal in Kempten sagte ein junger Mann, gut aussehend, gepflegt zu den Schauspielerinnen und Schauspielern: „Ihr ward fantastisch, in jeder Facette konnte ich mich wiederfinden.“ Der Mann gestand selbst seit sechs Jahren ein Schwerstalkoholiker zu sein. Eine Frau im mittleren Alter, ebenfalls alkoholkrank: „Ich fühle mich angesprochen.“ „So ist es.“ „Das war sehr realistisch.“ „Die Mimik in Euren Gesichtern war klasse.“ Alles Stimmen von Betroffenen. Natalie Bayer, Leiterin der Suchtfachambulanz der Caritas in Kempten, hatte sie zu der Aufführung eingeladen. Die Aufführung fand im Rahmen der diesjährigen Aktionswoche Alkohol statt, die unter dem Leitwort „Alkohol. Weniger ist besser.“ steht. Auch Bayer zeigte sich fasziniert von der Aufführung: „Ihr gehört ins Fernsehen!“
Das Stück beginnt mit einem Klischee. Unterschiedlichste Alkoholflaschen stehen herum. Es herrscht Unordnung. Nacheinander treten Nico Bollwein als „Stan“, Carla Blumenröther als „Nicki“, „Madeleine“ und „Susi“, Alexandra Nummer als „Ingrid“, Mandy Stützer als „Jenny“, Maria Moschou als „Leo“, Sandra Müller als „Magda“, Klaus Hackenberg als „Eddy“ und André Montalbano als „Lucia Di Ora“ auf. Sie alle kennen den Raum nicht. „Wo sind wir?“ „Warum sind wir hier?“ „Ich habe keine Erinnerung mehr“, sagt „Ingrid“ und „Magda“ stimmt ihr zu. Sie sind verunsichert. „Ich werde hysterisch.“ „Ich habe einen Schatten gesehen, ein haariges Bild.“ Sie verstehen sich untereinander, weil sie alle in der gleichen Situation gefangen sind.
Doch das Theaterstück „Alkohol“ bleibt nicht dabei stehen. Denn Ehrlichkeit bricht hervor, auch wenn es
Eddy und Magda (vorne und im Film) wird im Film ihr Leben als Spiegelbild vorgehalten.Bernhard Gattner
nur ein kurzer Ausbruch dorthin ist, bevor er wieder heruntergeschluckt wird. Eddy und Magda sind ein Ehepaar, das sich wohl schon lange nichts mehr zu sagen hatte. „Du bist so langweilig“ Wir sitzen immer nur vor dem Fernseher!“, pflaumt Magda Eddy an. „Leo“ stürzt sich in Selbstmitleid und sieht doch noch so gepflegt und keineswegs arm aus. „Ich trinke, weil ich unglücklich bin. Das einzige, was ich noch tun kann, ist trinken. Deshalb trinke ich.“ „Lucia Di Ora“ ist Transvestit, läuft auf hochhackigen Stöckelschuhen und in einem goldenen Abendkleid herum und ergötzt sich am eigenen Theaterleben. „Stan“ steht zu seiner Trinkerei, ist noch der ehrlichste zu sich und den anderen. „Jenny“ spielt das junge Mädchen, dem Partys alles sind.
Eddy rüttelt schließlich auf. „Man hasst sich ununterbrochen selbst, man steht nur noch von den Trümmern seiner selbst. Man fühlt sich scheiße, und es ist noch schlimmer, wenn man nüchtern ist.“ Der Zuschauer mag dem zustimmen. Doch die Autorin Meizel will es nicht dabei belassen. Mit Filmsequenzen, von den Schauspielern auch selbst gespielt, gewährt sie einen Einblick in das wirkliche Leben der Protagonisten. Magda und Eddy zuhause, ständig betrunken, weshalb sie nicht merkten, wie sehr ihre Tochter darunter litt, bis sie auf einmal verschwand. Die Eltern „wachten“ nicht auf und tranken weiter. Auch das Leben von „Ingrid“ und „Nicki“ rüttelt auf. Der Vater hatte Selbstmord begangen, die Mutter empfand Freude daran, „Nicki“ immer wieder Schmerz zuzufügen, bis sie auf einmal verschwand. Zurückgeblieben ist „Nicki“ mit einer schweren Persönlichkeitsstörung, so dass in ihr sich auch „Madeleine“ und „Susi“ entwickelten. „Ingrid“ kümmerte sich um sie, doch es wurde ihr viel zu viel. So begann sie zu trinken. „Lucia Di Ora“ entdeckte in seiner Jugend, dass er homosexuell ist. Doch sein Vater konnte dies nicht akzeptieren, er wollte diese Neigung aus ihm herausprügeln, einen "Mann" aus ihm hervorprügeln, bis er ihn dann doch aus der Familie verbannte. „Stan“ litt unter Angststörungen und Verfolgungswahn, weil sein Vater und seine Freunde sich daran ergötzten, ihn zu quälen, als er noch ein Kind war. Mit dem Alkohol wurde er immer noch einsamer, keiner nahm ihn mehr auf, auch nicht seine Schwester. Leo war einsam, verlassen von ihrem Mann und hatte keinen Mut mehr, einen anderen Mann jemals wieder anzusprechen. So begann sie zu trinken, um die Einsamkeit nicht mehr zu spüren.
Am Ende entpuppt sich „Jenny“ als Psychologin, die alle Abhängigen in den Raum mit den vielen Flaschen gelockt hatte, um ein Experiment mit ihnen durchführen zu können. Mittels Hypnose wollte sie alle von ihrer Sucht befreien. Doch es gelingt nicht. Wie bei so vielen Therapieansätzen. Die Alkoholabhängigkeit kann nicht weggezaubert werden. Sie bleibt, für immer. „Jenny“ belässt es aber nicht bei dieser ernüchternden Erkenntnis. Sie erinnert daran – und bringt das zum Ausdruck, was Meizel bei ihren Recherchen für das Stück für sich herausfand - , „dass der Mensch nicht durch seine Erinnerungen das wird, was er ist, sondern durch seine Entscheidungen.“ Neuanfang heiße auch nicht, sich immer richtig zu entscheiden, „aber immer neu zu entscheiden, heißt Freiheit, heißt Menschsein.“
Eines ist dann aber einem Betroffenen dann auch noch wichtig, wie er in der Runde mit Meizel und den Schauspielern nach der Aufführung sagt: „Man muss ehrlich zu sich selbst sein. Und man muss sich immer wieder verzeihen können.“ Letzteres versteht er nicht als Freibrief, um wieder trinken zu können, aber als Voraussetzung dafür, es erneut wieder versuchen zu können, vom Alkohol sich nicht mehr beherrschen zu lassen. Auch dem Team der Caritas-Suchtfachambulanz in Kempten ist es letztlich nicht entscheidend, ob jemand nach einer Behandlung oder Therapie wieder abstürzt. „Wir freuen uns, wenn sie wiederkommen. Sie sind uns als Menschen nicht weniger wert wegen des Absturzes.“